Mehr als Schule: Ramonas Weg zur Selbständigkeit in der Rodtegg

«Dani, komm mit, hier geht’s lang!» Ramona Niederberger gibt den Ton an – und scheut sich auch nicht davor, den Reporter verbal anzustupsen, wenn der mal wieder trödelt oder sich mit anderen Leuten unterhält. Kein Wunder: Ramonas Terminplan ist eng getaktet. Und das elfjährige Mädchen aus Wolfenschiessen kennt die Räumlichkeiten der Stiftung Rodtegg Link öffnet in neuem Fenster. in Luzern wie ihre eigene Westentasche. Seit sie sechs Jahre alt ist, geht sie in der Stiftung für Menschen mit körperlicher Behinderung zur Schule. Dafür wird sie jeden Morgen vom Rodtegg-Taxi abgeholt und zusammen mit anderen Kindern aus der ganzen Zentralschweiz ins Luzerner Sternmattquartier chauffiert. Auf ihrem heutigen Stundenplan stehen die Fächer NMG (Natur, Mensch, Gesellschaft), Deutsch, Mathematik und Religion. Hinzu kommen eine Physioeinheit sowie ein Zwischenstopp bei der Körperpflege. Und darum: «Ist gut Ramona, ich komme!»

«Jedes Kind hat sein eigenes Tempo»

In der Stiftung Rodtegg besuchen Kinder und Jugendliche mit mittlerer bis schwerer Körper- und Mehrfachbehinderung die Schule. Der Unterricht findet in Spezialklassen mit unterschiedlichen Leistungsniveaus statt. Heilpädagogin Bettina Surdmann unterrichtet seit sieben Jahren in der Rodtegg. «Ich arbeite sehr gerne mit Kindern zusammen», sagt sie. Sie schwärmt von der guten Atmosphäre und von dem abwechslungsreichen Alltag, den ihr Job mit sich bringt. «In der Rodtegg ist kein Tag wie der andere.» Im Umkehrschluss bedeutet dies: Bettina Surdmann und alle anderen Lehrpersonen müssen stets auf alles vorbereitet und bereit sein, wenn nötig zu improvisieren. Dass es bei dem Job auch zu herausfordernden und belastenden Situationen kommen kann, versteht sich von selbst – auch deshalb werden die Lehrpersonen stets von Klassenassistenzen unterstützt. «Bei uns hat jedes Kind sein eigenes Tempo», erklärt Bettina Surdmann. «Durch eine möglichst individuelle Betreuung versuchen wir diesem so gut wie möglich gerecht zu werden.»

Theorie lernen, Praxis erfahren

Während die Kinder nach und nach im Klassenzimmer eintrudeln, beginnen Ramona und andere bereits mit einem Puzzle. Als alle da sind, holt Bettina Surdmann ihre Gitarre aus der Tasche, um mit den Kindern einige Lieder zu singen. Die Songs handeln, passend zur Jahreszeit, von Räbeliechtli und Laternenlichtern. Die Kinder singen kräftig mit – Ramona übertrifft aber alle mit ihrer Stimme.

Nach dem musikalischen Einstieg beschäftigt sich die Klasse mit dem Thema «Apfel». Mit Bilderkarten lernen die fünf Schülerinnen und Schüler den Weg vom Samen zur Frucht kennen. Anschliessend kleben sie Fotos auf ein Leporello, die zeigen, was man mit Äpfeln alles herstellen kann. Nebst der Vermittlung theoretischer Inhalte spielt in der Rodtegg auch die Praxis eine wichtige Rolle: In den vergangenen Wochen haben die Kinder unter anderem getrocknete Apfelringli und Most hergestellt – und natürlich zusammen genossen. Nach 45 Minuten ertönt der Gong, wie man ihn aus jedem anderen Schulhaus kennt. Für Romana wird es Zeit, ihre Sachen zu packen. Nächster Halt, Religionsunterricht, ein Stockwerk tiefer. «Dani, mitkommen!»

Seit Geburt querschnittgelähmt

Dass Ramona nur so vor Energie strotzt, ist alles andere als selbstverständlich. Das Mädchen wurde mit einem offenen Rücken geboren und ist aufgrund eines Gendefekts seit jeher auf den Rollstuhl angewiesen. Damit sie möglichst mobil bleibt bzw. künftig noch mobiler wird, arbeitet sie regelmässig an Kraft und Bewegung. Zudem ist sie in der Rodtegg öfters mit einem Stehgestell unterwegs. Das Gerät ermöglicht eine aufrechte Haltung, was positive Auswirkungen auf die Körperhaltung und das Gleichgewicht hat. «Für Kinder, die ansonsten überwiegend sitzen, ist das regelmässige Stehen wichtig, um ihre Körperfunktionen zu unterstützen», erklärt Bettina Surdmann.

Ramona Niederberger fühlt sich sichtlich wohl in der Rodtegg. Was ihr an der Schule besonders gefällt? «Dass ich hier viele Freundinnen und Freunde gefunden habe. Ausserdem mag ich es, dass ich so kreativ sein kann.» Tatsächlich scheint das Mädchen immer dann besonders aufzublühen, wenn sie farbige Stifte, Papier, eine Schere oder andere Bastelutensilien vor sich hat. «Ich liebe es, etwas Neues zu kreieren.» Was ebenfalls auffällt: Ramona ist überaus hilfsbereit und sozial. Mit Freude und Herz kümmert sich Ramona zum Beispiel um ihr Gspändli, das weder gehen noch sprechen kann und seinen Lerncomputer über die Bewegungen seiner Augen bedient.

Eine wertvolle Entlastung

Froh und dankbar um das Angebot der Rodtegg ist auch Ramonas Mutter. Für Sarah Niederberger, die nebst Ramona auch noch zwei Söhne hat, bietet die Schule eine wertvolle Entlastung in ihrem intensiven Alltag. «Ramona hat in den vergangenen Jahren nicht nur schulisch grosse Fortschritte gemacht, sondern entwickelt sich auch immer mehr zu einer selbständigen Person», erzählt Sarah Niederberger. Dass sich das aufgeweckte Mädchen heute so selbstverständlich durch das Rodtegg-Gebäude bewegt und trotz vollem Stundenplan immer genau weiss, wann und wo sie zu sein hat, ist nur eines von vielen Beispielen dafür.